Familiengeschichten für Florian

von Mami, Weihnachten 198x

Eduard Bleisch, geb. 1813, war der erste Arzt in der Familie. Sein Vater war Pfefferküchler in Nimtsch gewesen, und er schickte seinem in Breslau studierenden Sohn als Studienunterstützung 1mal wöchentlich einen grossen Laib Brot, in dessen ausgehöhlter Mitte ein Pfund Butter verborgen war. Im übrigen musste der junge Studiosus für sich selber sorgen. Er verdiente sein Geld mit Klavierunterricht, obwohl er selbst nicht Klavier spielen konnte.

Ich kenne ihn nur aus Erzählungen als den "Urgrossvater", auf den man sehr stolz war, nicht nur, weil er es bis zum "Geh. Sanitätsrat" gebracht hatte als Pfefferküchlerssohn, sondern auch weil er ein sehr eigenständiger Charakter war und ein bisschen ein Kauz.

Wie lange er mit seiner Frau, mit der er drei Kinder hatte, zusammengelebt hat, weiss nich nicht. Es hiess nur, dass sie bis zu ihrem Tode in einer Anstalt gelebt habe, da sie gemütskrank gewesen sei. Die Kinder waren: 1. Hedwig, die unverheiratet blieb und im Alter als "Tante Hedwig" sogar noch von Papi besucht wurde. Sie lebte dort zusammen mit ihrer Schwägerin, der berühmten "Grossl", die ihren Bruder Max geheiratet hatte.

Das dritte Kind war Kurt, der "Onkel Kurt", von dem ich noch erzählen werde.

Zurück zum Urgrossvater. Er betätigte sich auch forscherisch und entdeckte einige neue Diatomeen, die nach ihm benannt wurden.

Er war Kreisphysikus in Strehlen. Als solcher hatte er wohl die Pockenimpfungen durchzuführen und empfing die vom preussischen König gestiftete Impfmedaille, die du nun hast. Entworfen von Schinkel. Leider ist die Verleihungsurkunde verloren gegangen. Ich glaube, weil sie während des letzten Krieges zu sicher in Sicherheit gebracht wurde.

Er war katholisch und heiratete eine evangelische Frau, die Kinder wurden evangelisch getauft, heirateten dann wieder katholisch, deren Kinder evangelisch - so sprang es immer hin und her, stets wurden die Kinder in der Konfession der Mutter getauft, bis zu uns, da brach dein Vater aus der Tradition aus und heiratete als evangelischer eine evangelische.

Er hat spät geheiratet und ist alt geworden. Er hat seinen Sohn Max um Jahre überlebt und war sicher eine grosse Stütze für seine so jung verwitwete Schwiegertochter. Fromm war er überhaupt nicht. Man erzählt sich, dass er einmal auf einer Gesellschaft recht ketzerische Äusserungen getan habe, und als seine Tischdame etwas erschreckt sagte: "Aber Herr Sanitätsrat, wenn Sie so reden, wird Sie ja kein Pfarrer begraben!" antwortete er: "Gnädige Frau, da verlass ich mich auf [...]"

Ein Rauhbein war er auch. Morgens um 7 Uhr begrüsste er seine zahlreich wartenden Patienten mit dem Ausruf: "Was wollt ihr Affen denn schon wieder!" Trotzdem ist er sehr beliebt gewesen. Als sich sein Sohn nach seiner Approbation am gleichen Ort niederliess, ging dort die Scherzfrage um: "Was ist das ungezogenste Ding in Strehlen?" Antwort: "Die Nachtglocke vom jungen Dr. Bleisch."

Er zog dann auch mit seiner jungen Frau nach Cosel und liess sich dort nieder. Leider ist er sehr früh an einem Schlaganfall gestorben. Grossl war erst 32 Jahre alt, als sie ihren sehr geliebten Mann verlor, hatte nach zwei früh verstorbenen Jungen noch 3 Kinder und ging mit dem vierten schwanger. Am 10.3.96 starb ihre Mutter in Orzesche. Grossl war dort und wurde zurückgerufen, um am 11.3.96 am Sterbebett ihres Mannes zu stehen. Ein halbes Jahr später verlor sie ihren Vater.

Ich kannte die liebe, gute, sanfte Grossl recht gut. Sogar Du warst mit bei ihrem 90. Geburtstag und Sebastian in meinem Bauch. Damals erzählte sie mir, wie sie ihren Mann kennengelernt hatte. Ihr Vater hatte eine Apotheke in Breslau. Eines Tages war da ein junger Mann zu Besuch. Sie war gerade 12 Jahre alt, er wohl 18. Er verabschiedete sich von ihr mit den Worten: "Dich komm' ich mal holen." Und das tat er dann, als sie im heiratsfähigen Alter waren.

Von Fotos weiss ich, dass dieser Max Bleisch ein sehr gut aussehender Mann war. Er beschäftigte sich auch mit Bakterienforschung und war sicher nicht sehr erfreut, als seine Frau - natürlich ohne böse Absicht - seine zur Bakterienzüchtung vorbereiteten Fische gebraten als Mahlzeit auf den Tisch brauchte. Er hat von bedürftigen Patienten nie Geld genommen und wohl deshalb besteht noch eine unbezahlte Schneiderrechnung von ihm.

Nun blieb die Arme Clara Bleisch mit drei Kindern und einem ungeborenen allein zurück. Sie zog nach Strehlen zurück zu ihrem Schwiegervater. Max, der älteste, Dein Großvater, war 13 Jahre alt. Dann kam Hedwig (Tante Hede), dann Franz, der Studienrat wurde, und der Vater von der "dicken Trudl" war, zum Schluss, als Halbwaise geboren, die Tante Käthe, die Du noch kennst, die Mutter von Christian Tietze. Beide Töchter sind als Krankenschwestern ausgebildet worden.

Max (Grosspapa ohne Bart) war als ältester Junge sicher der Stolz seiner Mutter, die ihn als "männliches Familienoberhaupt" sah, so denke ich, und ihn daher recht verwöhnte. Nicht so sehr materiell, sie mussten ja sparsam leben. Aber schon in der Schulzeit, zum Abitur hin, wurde ein studentisches Leben imitiert mit [...]trinken. So ging es in Breslau im Studium sicher weiter, wie es damals so üblich war. Natürlich musste er Couleurstudent sein, was extra Geld kostete. Da er - nach meiner Beobachtung - ein eher labiler und zarter Charakter war, hat ihm das alles sicher geschadet und später sein Leben, sein Eheleben, stark belastet. An seiner Mutter hing er mit zärtlicher Liebe bis zu ihrem Tode. Er nannte sie "[...]".

Ebenso an seiner Tochter, auch zu mir ist er immer sehr lieb gewesen - nur nicht zu seiner Ehefrau. Sie haben eine "Strindbergehe" geführt.

Aber noch ist er Schüler, und aus jener Zeit erzählte er mir. Der jüngere Bruder seines Vater, der Onkel Kurt, war von zu Hause durchgebrannt. Auf jeden Fall hat er nicht die Schule beendet. Er ist nach Belgien gegangen und Bierbrauer geworden. Dort schon hat er sich mit Brauhefe beschäftigt, wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht und erhielt schliesslich einen Ruf nach München, wo er in Freising-Weihenstephan Professor wurde. Vorher musste er allerdings noch schnell - mit über 40 Jahren - das Abitur nachmachen. Er hat in München geheiratet und hatte eine Tochter.

Als dein Grossvater etwa 16 Jahre alt war, wurde er von Onkel Kurt zu einer Reise nach Wien eingeladen. Es war aber eine Berufsreise für den Herrn Professor, er musste Brauereien besichtigen. Der arme kleine Maxl langweilte sich tödlich. Am Ende gab der Onkel, der wohl nicht weiter wusste, dem Neffen in Wien einen Batzen Geld in die Hand, damit er sich noch in der Stadt vergnügen könne. Vater erzählte, dass er auf schnellstem Wege zum Bahnhof gegangen sei und dort auf den nächsten Zug nach Breslau gewartet habe. Unglücklich und verlassen.

Also eines Tages war er dann Arzt (wie oft musste Grossl in der Schule um gut Wetter für ihn bitten!) und liess sich in Friedland nieder. Seine älteste Schwester, Hede, führte ihm den Haushalt. Schon damals hatte er seinen Boxer, die Bockeline und wurde auch zu gesellschaftlichen Ereignissen immer mit dem Hund zusammen eingeladen: Dr. Bleisch mit Bockeline. Er blieb der Rasse treu, züchtete später auch Boxer - es war ein grosser Reibungspunkt in seiner Ehe.

Wann er Gertrud Pusch kennengelernt hat, weiss ich nicht. Es muss wohl in Breslau gewesen sein, wo sie, zusammen mit Tante Alice, das Lehrerinnenseminar besucht hat. Sie sind auf jeden Fall zusammen Schlittschuh gelaufen.

Hier auf dem Eis war Vater, wie er mir erzählte, einmal heftig enttäuscht worden, als eine junge Dame, mit der er lief, hinfiel, und man unter dem hochgerutschten Rock richtige O-Beine sehen konnte. Nun, Gertrud Pusch hatte keine O-Beine (was er damals natürlich nicht wissen konnte). Ihre Freundinnen sagten: "Was, Du gehst mit dem Dr. Bleisch, diesem Don Juan?!" Sein Schwiegervater warnte, als er um ihre Hand anhielt: "Überlegen Sie es sich noch einmal! Die Trude ist sehr schwierig." Sie heirateten trotzdem, und nur so bist du - über Papi - zustande gekommen.

Die folgende Zeit steht in Papis Erinnerungen.

Über Grossl muss ich noch etwas nachtragen: Sie war sehr fromm, eine überzeugte Katholikin. Ihre grosse Sorge war, dass alle ihre Kinder evangelisch geheiratet hatten. Jeden Tag um 7 Uhr früh ging sie zur Messe, bis sie im hohen Alter nicht mehr gehen konnte und sich von ihrem Pfarrer überzeugen liess, dass man auch am Radio dem Gottesdienst beiwohnen könne.

Damals, an ihrem 90. Geburtstag, als die ganze grosse Familie beisammen war, wurde darüber auch liebevoll gespöttelt. Sie lächelte und sagte: "Ich muss ja für alle angeheirateten Bämster (?) mitbeten!"

Noch mit 84 Jahren wurde sie aus ihrer Heimat vertrieben und musste über ein Lager in der Tschechoslowakei ins Ungewisse ziehen. Zusammen mit ihrer Tochter Käthe und deren Familie, in deren Armen sie auch gestorben ist. In all dem Kummer, den sie erlebt hat, ist ihr Glaube nur stärker geworden.

Den Freuden des Lebens war sie aber nicht abgeneigt. "Pfirsiche sind zum Essen viel zu schade, die gehören in die Bowle", ist ein Ausspruch von ihr. Oder: "Ein kleiner Schnaps ist mal was ganz schönes." Die grösste Freude als Festtagsgeschenk konnte man ihr mit einem Kistchen Austern machen.

Vater hingegen schwärmte für Hummer. Als Mutter mit Tante Alice 1937 zur Weltausstellung in Paris war, brachte sie ihm einen lebenden Hummer mit, der in seinem Kästchen an einer Schnur zum D-Zugefenster hinausgehängt wurde, um es frisch zu haben. Er kam auch lebend an.


Die Familie Pusch kenne ich aus Erzählungen Papis der seinen Grossvater sehr liebte.

Dieser Robert Pusch hat sein Leben kang in den Granitsteinbrüchen bei Strehlen gearbeitet (Niklasdorfer Steinbrüche). Er fing als Lehrling im Büro an und ist schliesslich 40 Jahre lang der Direktor der Steinbrüche gewesen. Hat sich selber aber immer nur bescheiden "Verwalter" genannt. Er muss auch ruhig und gemütvoll gewesen sein. Ass gern Schokolade und trug immer welche bei sich. Die Kinder auf der Strasse hielten ihn an: "Bleisch, haste Schokolade?" (Und er hatte und verteilte immer. Von der Grossmutter weiss ich nur, dass sie auch ruhig und freundlich war. Wo die so unterschiedlichen Temperamente der 4 Kinder herkamen, weiss man nicht zu berichten. Der Grossvater hat in seinen Mussestunden Radio gebastelt und sich viel mit Fotographie beschäftigt. Selbst entwickelt und vergrössert. Es besteht noch ein hübsches Profilbild, das er von seiner Tochter Gertrud als junges Mädchen gemacht hat. Ein Sohn, der Onkel Richard, ist dann auch Fotograph geworden. Als der Grossvater 70 Jahre alt wurde, gab es ein grosses Familienfest und jeder Enkel bekam eine silberne Taschenuhr von ihm. Ich kenne Papis noch, er hat sie in der russischen Gefangenschaft verloren.

Die Kinder waren Gertrud, Hanna, Richard und Gerd. Die Reihenfolge weiss ich nicht. Gertrud, meine Schwiegermutter war jedenfalls die älteste. Sie war sehr hübsch, aber eben auch schwierig, im Gegensatz zu ihrer Schwester, die sanft und schüchtern war. Beide Ehen waren nicht glücklich. Onkel Gerd, Papis Patenonkel, war, denke ich, der jüngste und exzentrischste, von dem die meisten Geschichtchen erzählt wurden. Schon als Junge ärgerte er seinen Klavierlehrer, indem er immer barfuss zum Unterricht erschien, die Schuhe nämlich, die er zu Hause anziehen musste, stehts unten im Treppenhaus des Lehrers abstellte. Auch in der Schule gab es Schwierigkeiten -- ich weiss nicht, ob er nicht weiter machen wollte oder ob er flog. Auf jeden Fall wurde er Schornsteinfeger + Meister und ist schliesslich der Wohlhabendste in der Familie gewesen mit kostspieligen Hobbies und verrückten Ideen. Er baute Schiffe und schenkte sie seinen Neffen. Er sammelte Gewehre und übte sich mit den ältesten (Mit [...] auf der Pfanne) in der Wohnung Scheibenschiessen. Seinem Sohn schenkte er eine Mundharmonika und versprach: "Wenn Du spielen kannst 'Ich hab einen Kameraden', bekommst Du ein Motorrad." Der Sohn war eher bequem und meinte: "Das krieg' ich auch so" -- und wirklich kam der Vater bald mit einem Motorrad an, das er als Trophäe bei einem Wettschiessen errang. Als zum Begräbnis seines Vaters die Familie sich versammelte, begrüsste er seine Schwester Gertrud mit den Worten: "Heil Hitler, Trude, haste schon n russischen Automaten gesehen?" Und dann erklärte er ihr als erstes in seiner nöligen Art dieses Gewehr. Während des ersten Weltkrieges hatte er mal einen Zentner Mehl ergattert, seine Frau war wohl mit den Kindern auf dem Land. Er stellte sich hin und buk aus allem Mehl Berliner Pfannkuchen, die noch Jahre später als harte Bälle auf Schränken und in Schubladen gefunden wurden. Seine Frau beschwerte sich: "Der Junge braucht Schuhe." Er ging hin und kaufte gleich 20 Paar. Ich habe ihn leider nie kennengelernt. Nur seine Tochter hat uns einmal besucht. Der Sohn war früh an Meningitis Gestorben.

Die Kinder von Max und Gertrud Bleisch geb. Pusch waren:

Gertrud (genannt Trulle), 1913 geboren. 1914 kam Max und 1918 Dein Vater Gerhard. Trulle hat erst nach dem 2. Weltkrieg den Mann ihrer verstorbenen Freundin geheiratet, der als Offizier in Kanada in Gefangenschaft gewesen war. Er brachte 2 Kinder in die Ehe mit, Trulle bekam dann noch einen Sohn, Peter Meythaler. Er lebt irgendwo am Bodensee als Gewerbelehrer und hat 2 Söhne. Max ist leider bei Woronesch gefallen. Er war Diplomingenieur, hat, glaube ich, in Dessau bei Messerschmidt gearbeitet. War ganz anders als Papi, eher ruhig und bedächtig, war noch nicht verheiratet, nur verliebt und enttäuscht, und hat vom Feld aus Papis Heiratswünsche unterstützt, als Dein Grossvater streng dagegen war, weil das Studium noch nicht abgeschlossen war. Er ist einige Monate vor unserer Hochzeit gefallen.

Trulle ist, nachdem sie Witwe geworden war und ihr Sohn auch geheiratet hatte, sehr depressiv geworden. Kurz vor Papis Tod ist sie 1/4 Jahr bei uns gewesen. Hat im Bein einen Bypass bekommen, vorübergehend das Rauchen aufgegeben. Im Jahr nach Papis Tod hat sie sich das Leben genommen.


Hier fange ich nun mit meiner Familie an.

Ich kenne nur meinen Grossvater väterlicherseits. Als Zimmergeselle hat er am Dachstuhl der Gedächtniskirche mitgearbeitet, darum freute ich mich so, als wir für den "Hl. Sebastian" von Frank eine Platte vom Altarsockel der alten Gedächtniskirche bekamen. Er ging dann nach Danzig, mein Vater muss noch sehr klein gewesen sein, und arbeitete im Baugeschäft der Brüder Körner. Du kennst seinen alten Meister noch, der später Lehrmeister seines 2. Sohnes, meines Vaters wurde. Der alte Herr besuchte uns gern, als wir schon in Nikolassee wohnten, kam mit über 80 Jahren zu Fuss von Steglitz hierher! Ist fast 100jährig gestorben. Mein Opapa wurde dann Zimmermeister in der Firma und Papa entsann sich, dass manchmal Picknickfahrten in die Olivaer Wälder unternommen wurden, bei denen die Picknickkörbe meiner Grossmutter besonders geschätzt waren. Meine Grossmutter starb sehr früh, Opapa blieb mit 3 Söhnen, Max, Rudolf und Willi und einer kleinen Tochter Frieda (ich glaube, im Hochschulweg in Danzig-Langfuhr) zurück, nahm sich eine Haushälterin, dier später heiratete. Mit der hatte er noch zwei Töchter, meine Tanten Erika und Ruth.

Die Söhne wurden alle "Baumenschen". Der Max und der Willi durften die Baugewerbsschule besuchen, mein Papa als der mittlere wurde gleich in die Lehre gegeben ins Baugeschäft Körner. Nachdem er 2 mal die letzte Klasse der Volksschule besucht hatte, da er das erste Mal noch zu jung war, um aus der Schule zu kommen. Er machte also auch eine Zimmermannslehre bei Körner und hat dann frühzeitig schon im Büro an Bauzeichnungen gearbeitet. Hat nebenbei auch Privataufträge für Konstruktionszeichnungen angenommen und so gut verdient, dass er (sparsam war er immer), mit 18 Jahren soviel Goldmark liegen hatte, dass er ein Grundstück im Rickertweg in [...] kaufen wollte. Er ging zu dem Besitzer mit seinem Anliegen, der sagte: "Sie, Herr Hoffmann, nein Sie doch nicht! Ihr Vater! Sie sind doch noch nicht grossjährig!" Also musste er seinen Vater einweihen, der sicher recht überrascht war und schliesslich recht verlegen und etwas unbeholfen, wie mein Vater mir erzählte, den Vertrag unterschrieb. Der junge Grundstückstbesitzer kaufte sich im Gefühl seiner Wichtigkeit einen Hut und einen Spazierstock, wie sein Lehrer es trug. Als er dem aber in seiner Pracht begegnete, versteckte er sich geniert hinter einer Hausecke und hat die Insignien seiner Bedeutung nicht mehr getragen. -- Erst später wieder, als er Baumeister war. Ich sehe meinen Vater in meiner Kindheit immer mit einem hübschen hellen Rohrstock spazieren gehen -- ein Hut war ja sowieso unerlässlich.

Auf dem Grundstück im Rickertweg wurde ein Wohnhaus gebaut. Da war Papa wohl schon fertig mit seiner Ausbildung und mit im Baugeschäft "Rudolf Hoffmann + Söhne", das mein Grossvater gegründet hatte. Hier beim Bau, den Papa gerade beaufsichtigte, passierte etwas Schreckliches: Vor seinen Augen gab der Boden nach und die schon aufgeführten Mauern stürzten in sich zusammen. Er konnte gerade noch schreien: "Raus" -- es kam auch kein Mensch zu schaden. Aber er sass als etwa 20jähriger zusammen mit seinem Vater auf der Anklagebank. Da aber die Fundamente des Baus von einer anderen (Special)Firma aufgeführt worden waren, war Firma Hoffmann unschuldig! Jedesmal, wenn ich daran denke, habe ich grosses Mitleid mit dem etwa 20jährigen jungen Rudolf, dem sein erstes Werk vor den Augen zusammenbrach. -- Aber es wurden neue Fundamente gebaut, das Haus wurde aufgebaut. Wenn ich mich recht erinnere, ein recht prachtvolles 2 Familienhaus. Im Erdgeschoss wohnten meine Grosseltern, oben war vermietet. Mir hat die Wohnung meiner Grosseltern einen tiefen Eindruck gemacht. Möbel: Danziger Barock. In schwarzer Eiche. Wiel Schnitzereien bis hin zu Engelköpfen. Opapa hatte einen Hund, den Tell, schwarz-weiss gefleckt, und ich durfte auf ihm reiten. Es war überhaupt wundervoll, wenn wir dort zu Besuch waren. Tante Frieda liebte ich sehr, sie starb schon mit 27 Jahren, 1928, war verheiratet mit einem "Baumenschen" Kurt Dietz, sie wohnten noch im Rickertweg, war schwanger und stürzte von einer Leiter beim Gardinenaufhängen. Ich durfte sie noch im Krankenhaus besuchen, wo sie gelähmt lag.

Aber ich habe viel schönere Erinnerungen an die Besuche im Rickertweg, als noch alle drei jungen Tanten dort wohnten in wunderschönen weisslakierten Jungmädchenzimmern, wo ich manchmal schlafen durfte. Ganz bestimmt im August 1924, als mein Bruder Jürgen zu Hause geboren wurde. Ich bekam Frühstück (mit Ei) im Bett! Und meine wundervollen Tanten hofierten mich. Ich kann das Gefühl heute noch zurückrufen. Und dann ging ich mit Omama durch den Jäschkenthaler Wald (vorbei am Gutenbergdenkmal) mit einem Blumenstrauss in der Hand zurück nach Hause. (Die Topographie findest Du auch bei G. Grass geschrieben.) Auch alle Strassen, in denen sich die Geschichten von Grass abspielen kenne ich sehr genau, weil Papa, als er später ein eigenes Baugeschäft hatte, überall dort gebaut hat.

Ja, er trennte sich von seinem Vater, gründete eine eigene Firma: Rudolf Hoffmann jun. Hoch-Industrie + Tiefbau. Von Tiefbau weiss ich nichts, aber Fabriken hat Papa gebaut und viele viele Wohnhäuser in Langfuhr. Für seine Familie ein kl. Haus Mischauer Weg 59. Damals war ich 2 Jahre alt. Am Haus war ein schöner Garten, daneben und dahinter der "Platz" auf dem die Tischlerwerkstatt stand und ein Pferdestall. Meine Kindheit wird begleitet vom Geräusch der Band- + Kreissäge, vom Duft des Holzes, Spielen mit Sägespänen und Hobelspänen, Balancieren auf Holzbrettern, die zum Zurichten von Dachbaklen auf dem Hof liegen -- und natürlich die Pferde mit dem Kutscher.


Meine Grosseltern mütterlicherseits kenne ich nur aus Erzählungen, denn ich war erst 2 Jahre alt, als meine Grossmutter starb. Allerdings habe ich doch eine gute Erinnerung an ihre letzte Wohnung in [...], denn ihre jungen unverheirateten Töchter (meine Tanten) lebten dort noch zu einer Zeit, an die ich mich erinnere, weil ich öfter dort (auch über Nacht) zu Besuch war.

Meine Mutter und ihre Schwestern haben viel und gern aus ihrer Kindheit erzählt, ich habe immer mit begeistert aufgesperrten Ohren zugehört, ich berichte, was ich behalten habe.

Mein Grossvater Friedrich Orboeck war Kaufmann, lebte in Wehlau, von seinen Eltern weiss ich gar nichts. Es heisst, dass er wohl auch in Wehlau eine ältere Schwester hatte, die aber kaum in Erscheinung trat. Er hat einen Kaufladen und eine Gastwirtschaft gehabt, hat gern und viel angebaut und dazugebaut, ja sich durch seine Bauleidenschaft in Schulden gestürzt. Tante Heta, Mamas ältere Schwester, hing besonders an ihm und erzählte von seinen grossen braunen Augen, die ihre Freundinnen erschreckten: "Dein Papa hat so schwarte Augen! Sie: "Ja, er kommt ja auch aus Petersburg, wo die Wölfe wohnen!" Er kam nur aus Petersdorf, einem in der Nähe gelegenen Dorf.

Er liebte sein "Weibchen" zärtlich. Leider sind ihre Briefe, die ich von Mama geschenkt bekam im Krieg verloren gegangen, zusammen mit der grossen Zahl von Briefen, die Papi und ich geschrieben haben. Jedes Jahr kam ein Kind, zuerst 4 Töchter: Heta, Tita (Elfriede, deine Grossmutter), Lotte, Dora, dann wohl Hans (der starb), dann Grete, Fritz und ein kleiner Alfred. Bei jeder Entbindung gab es Tafeln Schokolade für die Geschwister und Champagner für die Wöchnerin und den geschwächten Vater. Er war sehr stolz auf seine hpbschen Kinderlein, die er gern herausputzte.

In der Silvesternacht 1910/11 um 23 1/4 h ist er an Typhus gestorben, nachdem der kleine Alfred, wohl wirklich noch ein Baby, vorangegangen war. 2 oder 3 andere Geschwister von Grossmama waren auch an Typhus erkrankt. Grossmama hat mir oft erzählt, dass sie verbotenerweise in die Krankenzimmer lief, um dort zu spielen und ihre Geschwister zu unterhalten. Und sie erzählte auch, wie ihre Mutter um 12h nachts weinend am Fenster stand, während unten durch die Kirchstrasse die vergnügten Wehlauer mit Sektgläsern und den Rufen "Prosit Neujahr" zogen. Sie, meine Grossmutter, war 31 Jahre und blieb zurück mit 6 kleinen Kindern. -- Sie hat ihr Leben bewunderungwürdig geschafft, ohne Recht auf "Emanzipation".

Aber jetzt muss ich bei ihrer Herkunft beginnen.

In Schwentainen im ostpreussischen Masuren standen Hof und Gasthof meiner Urgrosseltern, wo meine Urgrossmutter, die Friederike geb. Welt wohl ein strenges Regiment führte. Sie war die berühmte Köchin in der Gegend, von der Grossmama sie gern erzählte. Selbst Bismarcks Sohn ist dort gewesen und hat sich in den Poesiealben ihrer Töchter verewigt.

Mein Urgrossvater Ferdinand war wohl sanfter Natur, las Romane und duftete nach Rosenparfum.

Sie hatten 12 Kinder, die meine Urgrossmutter nicht nur mit eiserner Hand regierte, deren Schicksal sie auch bestimmte -- leider nicht zum besten.

Ich weiss nur 7 Namen, nehme also an, dass die anderen sehr jung gestorben sind. Auch Tante Heta konnte mir nur diese sieben nennen. Drei von ihnen kenne ich sogar persönlich. Von allen gibt es Geschichtchen, manchmal heiter, meist traurig.

Mit Ernst Sperber fängt es an. Er wollte Maler werden (war vermutlich auch begabt). So etwas Unbürgerliches kam nicht in Frage, so ist er denn Fotograf geworden. Verheiratet mit der schönen Tante Alice. 9 [3?] Kinder. Er soll ein grosser Naturschwärmer gewesen sein, alle Blumen und Gräser gekannt haben. Seine Frau hat er angebetet: Eines Nachts, als er "benuschelt" nach Hause kam, hat er alle gezüchteten Hyazinthen abgeschnitten und seine schlafende Frau damit bekränzt und eingerahmt, so dass sie von dem betäubenden Duft aufwachte.

Reinhold war der zweite Sohn. Er und seine Schwester Ida wurden mit einem Geschwisterpaar Stöhr verheiratet, dessen Vater ein schwerreicher Kaufmann war. Beide Ehen waren sehr unglücklich und endeten tragisch. Reinhold, der durch die hohen Ansprüche seiner verwöhnten Frau in Schwierigkeiten kam, hat sich erschossen. Ich habe als Kind die Tochter aus dieser Ehe kennengelernt, eine Eva Kerner.

Ida, die auch zu der Ehe gezwungen wurde, hat sich vergiftet, ein Jahr - oder nur 1 halbes Jahr später hat sich ihr Mann auch erschossen.

Nun kommt Anna. Sie war wohl ein besonderer Liebling, weil sie sanft und fröhlich war. Selbst die Familie meines Vaters schwärmte von der Frau Orboeck, der alle Herzen zuflogen. Sie durfte auch nicht den Mann ihrer Wahl heiraten, weil er Lehrer war und "Lehrer sind Hungerleider". Glücklicherweise wurde sie aber nicht zu einer ungewünschten Ehe gezwungen und hat mit ihrem Fritz (leider nur zu wenig) gkückliche Jahre verlebt.

Folgt Willibald, den ich kannte und sehr mochte. Er muss ein rechter Filou gewesen sein. Hatte pechschwarze blitzende Augen, konnte gut tanzen, sogar mit mir hat er noch Walzer getanzt. Sein Sohn Georg lebt noch in München, ist Arzt, ich kenne ihn aber nur telefonisch. Er hat sich von seinem Vater abgewandt als die Eltern sich scheiden liessen.

Alfred war klein und knickebeinerig, war mit der "rothaarigen" Tante Frieda verheiratet, hatte 3 oder vier Kinder. Er war der Erbe des Hofes in Schwentainen, wo die Eltern in späten Jahren auf dem "Altensitz" lebten bis mein Urgrossvater starb. Dann nahm meine Grossmutter, die damals schon Witwe war, ihre Mutter zu sich nach Wehlau.

Gertrud, die Tante Trude, heiratete nun doch einen Schulmeister und Kantor. Aber vielleicht wurde sie nur leichten Herzens an ihn gegeben, weil sie wirklich wenig ansehnlich war -- möglicherweise wäre sie sonst nie unter die Haube gekommen. Klein und mager, mit grosser Hakennase, sah sie wie ein gerupftes Vögelchen aus, das in seinem Schatten vegetierte und ihn unglaublich anbetete. Er war auch nicht gross aber unglaublich dick. Ich kenne die beiden gut, denn nicht nur waren sie zur Hochzeit meiner Tante Lotte nach Danzig gekommen, Mama war mit mir als 5-6jähriger einmal zu ihnen nach Wartenburg (bei Allenstein) gefahren. Ich sehe mich noch staunend am Frühstückstisch stehen und sehe eine Buttersemmel in seinem Mund nach der anderen verschwinden, die Tante Trude liebevoll dick bestrich und als "Schiffchen" zusammenklappte. Er ging auch in Zoppol schwimmen oder baden, es hiess, dass die See 1 m stieg, wenn er ins Wasser ging, nicht ohne von seinem Weibchen einen herzlichen Abschiedskuss bekommen zu haben. Sie trippelte dann, ganz aufgeregte Henne, am Ufer hin und her. Wenn er Klavier spielte, zerschmolz sie vor Glück, soll sogar seine Füsse geküsst haben, wobei sie seine Hacken mit rosigen Marzipankartöffelchen verglich. Sein Sohn ist ein armes neurotisches Wesen geworden, seine Tochter eine stramme Mariell. Der Letzte -- und der Liebling seiner Mutter -- war Onkel Hans. Ihn und seine Familie kenne ich auch gut und habe mit seiner jüngsten Tochter Christel oft gespielt. Sie war nur 2 Jahre älter als ich. Also der Onkel Hans. Er war auch meiner Mutter angebeteter Onkel und sie gestand mir, dass sie als Kind oder ganz junges Mädchen hoffte, dass Tante Ella sterben würde, damit sie ihn heiraten könne. Er sah gut aus, durfte als einziger der Kinderschar in Königsberg das Gymnasium besuchen, wurde immer verwöhnt. Verführte in sehr jungen Jahren eine hübsche Blondine (eben die Ella) und musste heiraten. Er wurde Holzkaufmann und im 1. Weltkrieg -- oder danach, gleich während der Inflation, ein unheimlicher Schieber.

Tante Heta erzählte uns, dass er ihr mit Geld vollgestopfte Kleiderschränke gezeigt hätte. Er trug an der Uhrkette einen goldenen Sektquirl (so was hatte man damals), weil die Kohlensäure des Sektes nicht seinem Magen bekam. Überhaupt hörte ich immer in Verbindung mit ihm etwas von nervus vagus und (hinter vorgehaltener Hand) etwas von Morphium -- oder gar Kokain?

Ich weiss nicht, wann er seine pompöse Villa, die in Langfuhr gleich neben der ehemaligen Kronprinzenvilla lag, verlor -- ich war nie dort. Die Familie zog nach Zoppol und langsam bröckelte das Vermögen ab und schmolz wie Schnee dahin.

Selbst ich habe noch Erinnerung an seinen Charme. Mein Vater hatte ein recht zwiespältiges Verhältnis zu ihm. So ein windiger und leichtsinniger Kerl war natürlich nichts für meinen durch und durch ehrlichen und anständigen Vater. Ihm hat er aber seine Frau zu verdanken, denn, da sie einander geschäftlich kannten, lud Onkel Hans den jungen Hoffmann zusammen mit der Familie Orboeck ein, ganz gezielt die beiden zusammenbringend -- und es hat ja dann auch geklappt. Zur Hochzeit schenkte er ein Tafelservice für 12 (oder 24?) Personen und entsprechende Gläser dazu -- die Rechnungen kamen hinterher an meinen Vater.

Das war also schon 1920. Gleich nach dem Krieg, als ihre Mutter schon gestorben war, verliess Omama mit den 5 noch übrig gebliebenen Kindern (Tante Heta war schon 1918 nach Magdeburg verheiratet worden) Wehlau und zog auf anraten ihres Bruders Hans nach Danzig. Dort kaufte sie in der Heiligengeistgasse ein Mietshaus, zog dort auch mit ihrer Familie hin. Meine Mutter wäre gern Erzieherin geworden, besuchte aber eine Handelsschule. Nicht lange, denn wie gesagt, tauchte Rudolf Hoffmann auf. Später zog Omama mit den 4 übrigen Kindern (sie waren nun keine Kinder mehr, nur mein Onkel Fritz besuchte in Zoppol noch die Realschule) nach Zoppol und mietete dort die obere Etage eines hübschen im Garten gelegenen Hauses, ich glaube, in der Seestrasse. Das Haus gehörte dem Apotheker Günther. Ich sehe sie noch beide vor mir. Er trug einen grauen Vollbart, hatte auf seiner Glatze einen dicken Huppel (Grützbeutel) und schielte kräftig, seine Frau trug eine runde Brille auf der roten Knubbelnase. Den spezifischen Geruch des Hauses könnte ich noch heute erkennen. Es muss eine Mischung gewesen sein aus Holz, Seewind, Feuchtigkeit + Äpfeln. Das alles stammt aber aus meiner Erinnerung von 1925-27. Omama war 1922 gestorben. Mein Vater übernahm die Vormundschaft für die noch nicht grossjährigen Geschwister.

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